Wer kommt aus Deutschland? Wer aus einem anderen Land der Europäischen Union? Wer wurde in einem anderen Land geboren (einem sogenannten Drittstaat)? Im AWO-Seniorenzentrum in Kirchseeon spielt die Herkunft keine Rolle. „Wir arbeiten seit über 15 Jahren mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt zusammen“, berichtet Einrichtungsleiterin Lydia Wörlein. „Wir achten nicht mehr darauf, wer eigentlich wo herkommt.“ Jede*r hat seine*ihre Aufgabe im Team. Auf das Zusammenspiel kommt es an, nicht auf Herkunft, Kultur oder Religion.
Ein Blick auf die Personalstatistik des Bezirksverbands Oberbayern zeigt: In der Altenhilfe des Verbands arbeiten zu 35 Prozent Kolleg*innen, die aus der EU bzw. einem Drittstaat kommen, und zu 65 Prozent Menschen, die aus Deutschland kommen (Stand: Juli 2024). Damit ist der Bereich sehr viel internationaler aufgestellt als Deutschland insgesamt (siehe Kasten).
Einstieg mit einem Freiwilligen Jahr
Nach Kirchseeon kamen die meisten Kolleg*innen viele Jahre direkt aus dem Ausland über ein Freiwilliges Soziales Jahr in das AWO-Seniorenzentrum. Sie absolvierten ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder einen Bundesfreiwilligendienst (BFD). Voraussetzung für beides ist für Menschen von außerhalb der EU ein sogenannter Aufenthaltstitel – das heißt ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis –, der zur Erwerbstätigkeit in Deutschland berechtigt.
Die Bewerber*innen suchte Lydia Wörlein anhand ihres Lebenslaufs aus, das Bewerbungsgespräch führte sie per Telefon oder Video. Wer kommen wollte, bekam eine Vereinbarung mit der Einrichtung zugeschickt, ging zur Deutschen Botschaft im eigenen Land, erhielt dort den Aufenthaltstitel und konnte den Dienst in Kirchseeon beginnen.
Wenn das Visum nicht kommt
Soweit die Theorie. In der Praxis gaben die zuständigen Botschaften in der jüngeren Vergangenheit jedoch keine Titel mehr aus (oder nur sehr verzögert) und waren laut Wörlein auch für sie als Einrichtungsleitung nicht erreichbar. „Einmal wartete eine Bewerberin ein ganzes Jahr auf ihr Visum“, berichtet Lydia Wörlein. Das ist zu lang für eine Anstellung, die auf ein Jahr ausgelegt ist.
Denn: Jede FSJ- oder BFD-Stelle, die im Anstellungsprozess steckenbleibt, kann nicht erneut ausgeschrieben und besetzt werden. So wie diesen Sommer wieder: Da kam der Vertrag mit der ursprünglichen Bewerberin nicht zustande. Erst Anfang Juli fand Wörlein Ersatz – und das für eine Stelle, die ab Anfang September besetzt sein sollte.
Entscheidend dafür, ob ein junger Mensch nach Deutschland kommt für ein Soziales Jahr ist laut Wörlein neben dem Titel, ob der Arbeitgeber Wohnraum bietet. Denn wie sollen die hohen Mieten in Oberbayern bezahlt werden von einer Entlohnung in der Höhe eines Taschengeldes? Zum Glück gibt es im Seniorenzentrum Kirchseeon Zimmer für Mitarbeitende.
Von der Freiwilligen zur Wohnbereichsleitung
Wenn es klappt mit dem Freiwilligendienst, dann ist für die Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland in Kirchseeon viel möglich. Eine ehemalige FSJlerin beispielsweise leitet heute einen Wohnbereich. Sie startete nach einem Freiwilligen Jahr mit der Ausbildung, schloss als Pflegefachkraft ab, absolvierte die Qualifikation zur Pflegedienstleitung und möchte sich 2024 einbürgern lassen.
Diese Erfolgsgeschichte zeigt zwei Dinge: Zum einen, wie zeitintensiv der Weg aus dem Ausland bis in eine Führungsposition ist. Zum anderen, wie nachhaltig und karrierebewusst der Weg einer jungen Kollegin sein kann. Wer aus dem Ausland kommend seine Ausbildung in Deutschland macht, kann als Berufsanfänger*in direkt durchstarten und spart sich den Weg durch die Anerkennung des Berufsabschlusses. Und mehr noch: Der generalistische Pflege-Abschluss in Deutschland ist europaweit anerkannt und öffnet so auch wieder Türen ins Ausland.
Arbeitserlaubnis von der Ausländerbehörde
Im Gegensatz zu öffentlichkeitswirksamen Projekten der Bundesregierung, die Fachkräfte im Ausland anwirbt, bemüht sich Lydia Wörlein leise um Arbeitskräfte aus anderen Ländern. Von ihrem Büro aus in Kirchseeon kommt sie mit potentiellen Bewerber*innen in Kontakt. Manche findet sie über das FSJ-Netzwerk des AWO-Landesverbands, andere über private Kontakte. Im Moment sind es häufig Au-Pair-Mädchen, die in Deutschland oder Österreich angestellt sind, die sich für eine einjährige FSJ-Stelle interessieren.
Wer schon in Deutschland ist, erhält den Titel bei der Ausländerbehörde. Hier hat Wörlein gute Erfahrungen mit den Behörden gemacht. Die Erlaubnisse werden zügig ausgestellt. Die Bewerberinnen können eingestellt werden und sind ein Jahr in der Einrichtung tätig – ein Zeitraum, um miteinander vertraut zu werden und die gegenseitigen Erwartungen zu eruieren.
Ausbildungsstart mit Unterstützung
„Nach einem Jahr können wir gut beurteilen, ob jemand in unsere Einrichtung passt“, sagt Lydia Wörlein. Je nach Ausbildungs- und Sprachniveau kann nach dem Jahr eine einjährige oder eine dreijährige Pflege-Ausbildung angeschlossen werden – die Voraussetzung für eine Berufslaufbahn in Deutschland. Den meisten Auszubildenden bietet Wörlein eine Übernahme an. Viele bleiben, manche wechseln den Arbeitsplatz. Sie werden von anderen Einrichtungen abgeworben. Auch das ist Teil der Realität in Zeiten des Fachkräftemangels.
Eine Sprache, viele Kulturen
Kann also das Miteinander in einer Pflegeeinrichtung wie dem Seniorenzentrum Kirchseeon als Vorbild gesehen werden, wie Menschen in einer multinationalen und multikulturellen Gruppe zusammenleben und arbeiten können? Vielleicht. Zwei Punkte sind laut Wörlein entscheidend, damit das Miteinander gut läuft.
Zum einen die gemeinsame Sprache: Das ist im Seniorenzentrum im öffentlichen Raum Deutsch. Zwar halten sich Kolleg*innen, die unter sich sind, auch einmal in ihrer Muttersprache. Sobald jedoch eine Person dazu kommt, die der Sprache nicht mächtig ist, gilt es, die gemeinsame Sprache Deutsch zu sprechen, damit sich alle gehört, verstanden und zugehörig fühlen.
Zum anderen gehören kulturelle oder religiöse Zeichen, wie zum Beispiel das Kopftuch, zum Erscheinungsbild von Teammitgliedern. In einem Monat wie dem Ramadan sind alle jedoch wie gewohnt zum Dienst eingeteilt und für sich selbst verantwortlich, auch wenn sie tagsüber nichts essen und trinken.
So entsteht im Seniorenzentrum Kirchseeon eine internationale Gruppe von Menschen, die einen Weg gefunden haben, das tägliche Miteinander gemeinsam zu gestalten. Jenseits von Vorurteilen, Theorien und Bewertungen davon, wie Menschen mit unterschiedlicher Herkunft zusammenleben sollten. Bei allen Unterschieden verbindet sie ein gemeinsames Ziel: die Pflege der ihnen anvertrauten Senior*innen.
Pflegekräfte in Deutschland
In Deutschland haben 20,2 Millionen Menschen eine sogenannte Einwanderungsgeschichte, was bedeutet, dass sie seit 1950 selbst nach Deutschland eingewandert sind (erste Generation) oder direkte Nachkommen (zweite Generation) von Zugewanderten sind. Von den Altenpflegekräften, die in Deutschland tätig sind, haben rund ein Drittel (30,1%) eine Migrationsgeschichte. Interessantes Detail: Seit 2022 wird das Beschäftigungswachstum in der Pflege ausschließlich von ausländischen Pflegekräften getragen. Quelle: Destatis
Im Bild von links nach rechts: Ein Teil des multinationalen Pflegeteams: Kolleginnen aus Ruanda, Usbekistan, Nepal, Kolumbien, Kroatien und Bayern. Vier davon (unten Zweite von links sowie Vierte von links, oben Erste und Dritte von links) haben ihre Ausbildung zur Pflegefachfrau erfolgreich abgeschlossen und sind seit Anfang September als Pflegefachfrauen beschäftigt.
Text: Linda Quadflieg-Kraft
Foto: AWO-Seniorenzentrum Kirchseeon
Der Artikel ist in der Ausgabe 3/2024 unserer Mitgliederzeitschrift WIR auf Seite 16 erschienen, siehe Wir mit dem Teil aus Oberbayern ab Seite 11 (PDF | 4 MB)
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